Freitag, 4. Juni 2010
Über die Liebe von Khalil Gibran
Khalil Gibran
Wenn die Liebe euch ruft, so folgt ihr,
auch wenn ihre Pfade beschwerlich und steil sind.
Und wenn ihre Schwingen euch umfangen, gebt euch ihr hin,
auch wenn das Schwert zwischen ihren Fittichen euch verwunden mag.
Und spricht sie zu euch, dann schenkt ihr Glauben,
auch wenn ihre Stimme eure Träume zerschlagen mag,
so wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so wie die Liebe euch krönt, so wird sie euch kreuzigen.
So wie sie euer Wachstum fördert, so stutzt sie auch euren Wildwuchs.
Ebenso wie sie zu euren Gipfeln emporsteigt
und eure zartesten Zweige liebkost, die im Sonnenlicht zittern,
wird sie zu euren Wurzeln hinabsteigen
und sie erschüttern in ihrer Erdverbundenheit.
Wie Garben sammelt sie euch und drückt euch an ihre Brust.
Sie drischt euch, um euch nackt zu machen.
Sie siebt euch durch, um euch von eurer Spreu zu befreien.
Sie mahlt euch blütenweiß.
Sie knetet euch, bis ihr geschmeidig seid;
und dann übergibt sie euch ihrem heiligen Feuer,
damit ihr heiliges Brot für Gottes heiliges Festmahl werdet.
All das wird die Liebe euch antun,
damit ihr die Geheimnisse eures Herzens erkennt
und in diesem Erkennen
ein Teil vom Herzen des Lebens werdet.
Solltet ihr aber aus Angst nur den Frieden der Liebe
und die Freuden der Liebe erstreben,
dann ist es besser für euch, wenn ihr eure Blöße bedeckt
und die Dreschböden der Liebe verlasst und hinaustretet
in Welten ohne Jahreszeiten,
wo ihr Lachen werdet, aber nicht all euer Lachen,
und weinen, aber nicht all eure Tränen.
Die Liebe gibt nichts als sich selbst
und nimmt nichts als von sich selbst.
Die Liebe besitzt nicht, noch will sie Besitz sein.
Denn der Liebe ist die Liebe genug.
Wenn ihr liebt, sollt ihr nicht sagen:
"Gott ist in meinem Herzen" sondern:
"Ich bin im Herzen Gottes."
Und meint nicht, ihr könnt den Lauf der Liebe bestimmen,
denn befindet sie euch für würdig,
bestimmt vielmehr sie euren Lauf.
Die Liebe wünscht nichts, als sich selbst zu erfüllen.
Doch wenn ihr liebt und Wünsche haben müsst,
dann wünscht euch dies:
Zu verschmelzen und gleich einem rauschenden Wasser zu werden,
das der Nacht seine Weisen singt.
Die Qual zu großer Zärtlichkeit kennen zu lernen.
Verwundet zu werden von eurem eignen Verständnis der Liebe;
und bereitwillig und freudig zu bluten.
Im Morgengrauen mit einem Lerchen-Herzen aufzuwachen
und für einen neuen Tag des Liebens Dank zu sagen;
in der Mittagszeit zu rasten und dem Entzücken der Liebe nachzusinnen;
am Abend dankbar heimzukehren;
und dann einzuschlafen
mit einem Gebet für den Geliebten im Herzen
und einem Lobgesang auf den Lippen.
Und lasst die Winde des Himmels zwischen euch tanzen.
Liebt einander, aber macht aus der Liebe keine Fessel:
sie sei eher eine wogende See zwischen den Küsten eurer Seelen.
Füllt jeder des anderen Becher, aber trinkt nicht aus einem einzigen Becher.
Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht von demselben Laib.
Singt und tanzt und freut euch zusammen,
aber gestattet einander,
jeder für sich allein zu sein,
gerade so, wie die Saiten einer Laute allein sind,
auch wenn sie von derselben Musik erzittern.
Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Gewahrsam.
Denn einzig die Hand des Lebens kann eure Herzen fassen.
Und steht zueinander, doch nicht zu dicht beieinander:
denn die Säulen die den Tempel tragen stehen jede für sich,
und Eichenbaum und Zypresse wachsen nicht jedes in des anderen Schatten.
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